Von Sinn und Unsinn der Markt- und Meinungsforschung in Wahlzeiten
Die Demoskopen haben Hochkonjunktur kurz vor der Bundestagswahl – und gleichzeitig steigt die Anzahl kritischer Töne. Besonders pointiert sind dabei die PolitikerInnen selber, die gerne mit verächtlichem Unterton von „Wasserstandsmeldungen“ sprechen, die sie nicht scheren. Was ist dran an dieser Geringschätzung?
Ein wichtiger Aspekt: Die kommende Bundestagswahl ist objektiv eine harte Probe für die Zunft – dies liegt an zwei Faktoren, die hier zusammenkommen.
A) Am 24. September wird es für einige Parteien und Koalitionsoptionen sicher knapp werden. Exemplarisch zeigt sich das bei der 5%-Hürde. Zwei Umfragen, einmal mit einem Ergebnis von 4,9% und einmal 5,1%, mögen jeweils seriöse und exakte Umfragewerte sein, trotzdem hat die minimale Differenz maximale Auswirkungen (und redliche Institute weisen in einer Fußnote oder einem Methodenteil auf die Schwankungsbreite ihrer Ergebnisse hin).
B) Am 24. September geht es um konkretes Handeln. Wo macht der Wähler sein Kreuz? Im Vorfeld mag es viel um Meinungen und Images gegangen sein, aber von der Einstellung hin zur Tat ist es noch einmal ein weiter Weg. Das ist oft im Leben (und damit in der Marktforschung) so. „Die Versicherung wechseln? Wollte ich schon lange, aber tatsächlich gemacht?“ Mülltrennen finden wir alle gut – aber wie konsequent sind wir beim tatsächlichen Handeln? Nicht anders bei der Wahl: Für „XY“ (Person/Partei) Sympathien hegen ist das eine – aber tatsächlich dort mein Kreuz machen?
Damit kommen wir geradewegs zu zum anderen, zentralen Aspekt: Es gibt zwei Arten von Wahlforschung. Die eine produziert Zahlen, die der Vermarktung, der kommunikativen Verwertung dienen. Das mag man bedauern, aber so sind unsere (social-)media-getriebenen Zeiten. Auch die Politik mischt hier gerne und viel mit.
Die andere Art der Wahlforschung fragt natürlich am Ende des Tages auch nach Wählerstimmen. Schon weit vor einer Wahl wird aber – mit qualitativen und repräsentativen Methoden der Sozialforschung – nach den oft verschlungenen und komplexen Motiven gesucht, die am 24. September Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Alle Parteien treiben in diesem Bereich großen Aufwand. Anschließend mühen sie sich, dass die Daten nicht an die Öffentlichkeit gelangen, nutzen sie aber ausgiebig als zentrale Elemente ihrer Strategieplanung.
Wenn also ein Politiker, der mit den für ihn schlechten Zahlen konfrontiert wurde, die Metapher von der Wasserstandsmeldung bemüht, dann glauben wir ihm seine Kritik erst, wenn er im zweiten Halbsatz verkündet, dass seine Partei kein Geld mehr für solchen „Unsinn“ ausgeben wird. Wir haben ihn noch nicht getroffen.
Und was sind die „learnings“ über die Wahl am 24. September hinaus?
- Strategische Entscheidungen brauchen eine rationale Datenbasis. Deshalb ist und bleibt „Marktforschung“ unverzichtbar.
- Die operative Nutzung von Forschungsdaten ist genauso legitim, wie eine reine Zahlengläubigkeit naiv ist.
- Zahlen sprechen nicht (oder nur selten) für sich. Erst das Einordnen, die Interpretation, das Bewerten und Abwägen, die Verknüpfung mit weiteren Faktoren führt zu brauchbaren Schlussfolgerungen.
Erst dann wird aus Zahlen und Daten Rat und Beratung.
Ein Artikel von Christoph Eichenseer